Lesefreunde,
mir ist heute bewusst geworden, dass mich Japan in vielerlei Hinsicht verändert und verändern wird. Unter anderem, was meinen Geschmack angeht. Zu meiner eigenen Überraschung musste ich mehrfach feststellen, dass mir Kitsch gefällt. Dinge, die in meiner Welt vorher nicht wirklich stattgefunden haben. Ich spreche von Spielzeug- Sushi- Schlüsselanhängern (die man aus einem Automaten ziehen kann), Radiergummi in Doughnut- Form. Von Tesafilmhaltern in Katzenformat und gemustertem Tesafilm. ICH LIEBE ES.
„Warum trägt eine erwachsene Frau diese Puschel-Stoff- Anhänger an der Handtasche?“
Das ist eine Frage, die ich mir heutzutage nicht mehr stelle. Zwar übernehme ich nicht alles, aber ich kann mich zu vielem hinreißen lassen.
Auch, was meine Kleidung angeht merke ich, dass ich meinen Geschmack ändere. Das kenne ich aber auch aus anderen Ländern, vom Reisen und Phasen, in denen ich außerhalb Deutschlands gelebt habe. Anderes Thema.
Bewusstes Mitschwimmen
Worauf ich hinaus will: eine für uns neue Kultur hinterlässt Spuren. Meine oben erwähnten neuen Präferenzen sehe ich sehr gelassen, mit Humor und Neugierde. Ich finde ich es sogar angenehm, mich mitreißen zu lassen. Ganz bewusst mitzuschwimmen in den Dingen, die Japan mir anbietet und irgendwie meinem Alltag etwas Witz und Unbefangenheit verpassen.
Allerdings gibt es auch Dinge, die ich- bis vor kurzem unbewusst- angenommen habe und die ich mir nicht angewöhnen möchte.
Ein Beispiel: in Japan interagieren die Menschen sehr wenig miteinander. Wenn dir jemand auf dem sonst leeren Bürgersteig begegnet, entsteht keinerlei Blickkontakt, kein Lächeln, kein Gruß. Mit anderen Worten: es wirkt als ignorierten Menschen mich (oder starren mich in selteneren Fällen an- aber es entsteht nicht das, was ich nach meinem Empfinden Begegnung auf einer Augenhöhe nennen würde). Und dann wiederum verstehe ich das auch manchmal und glaube, dass meine Gegenüber immer ihre Gründe haben, warum sie was machen. Genauso wie ich auch.
Vor kurzem habe ich gemerkt, dass ich dieses Verhalten angenommen habe. Menschen begegnen mir und ich tue so, als wären sie gar nicht da. Ich schaue den Kassierern*innen nicht ins Gesicht sondern bin damit beschäftigt, mein Geld rauszufuchteln. Ich bin ein Spiegelbild dessen geworden, wie ich meine Umgebung wahrnehme? Die Maskenpflicht macht es definitiv nicht besser.
Seit mir das bewusst geworden ist, steuere ich dagegen. Ich versuche, die Personen die mir begegnen anzuschauen. Wenn eine Maske davor ist, dann eben das Foto am Namensschild. Das erfordert manchmal Kraft. Aber letzten Endes geht es mir darum, als Individuum so viel wie möglich selbst zu gestalten. Nicht die Dinge passiv passieren zu lassen oder Angewohnheiten unhinterfragt übernehmen! Es geht nicht darum, welches Verhalten im Miteinander richtig oder falsch ist, sondern um unsere Bewusstheit.
Unser Gehirn ist ein Klumpatsch, dessen Bahnen wir mitgestalten können, auch wenn das manchmal mühsam ist: es funktioniert. Und es gibt kein besseres Gefühl, als zu merken, dass das funktioniert!
Gestalte mit. Wenn auch im ganz Kleinen!
Und genau dazu möchte ich dich mit diesem Beitrag inspirieren. Dinge zu hinterfragen, die dir in deinem direkten Umfeld vorgelebt werden und deine eigenen Denkmuster vor allem im Bezug auf das Miteinander. Dazu gehört, bewusstes Annehmen und bewusstes Nicht- Annehmen!
Ich weiß, du bist vielleicht in der momentanen Pandemiesituation nicht von einer neuen Kultur umgeben, sondern vor allem zuhause.
Doch kulturelle Begegnungen finden überall statt. Das wird sich auch, betrachtet man das aktuelle Weltgeschehen, nicht ändern. Und wer, wenn nicht jede*r Einzelne, kann eine Kultur mitgestalten, die von Begegnung und Aktivität geprägt ist. Und gerade wir, die wir in einer sehr previligierten Situation sind, die nicht von Kämpfen um die eigenen Grundbedürfnisse geprägt ist, dürfen umso mehr Verantwortung übernehmen und Mitgestalten!
Sigi
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